Die Gefährdungsbeurteilung ist das zentrale Instrument für einen präventiven und systematischen Arbeits- und Gesundheitsschutz, der neben den klassischen Belastungen – zum Beispiel Heben und Tragen, Lärm und Gefahrstoffe – auch psychosoziale Faktoren auf- greift, die sich unter anderem aus Mängeln in der Arbeitsorganisation oder dem Führungsverhalten ergeben können.
Fast in jeder Fachpublikation, ob von Berufsgenossenschaften oder Arbeitsschutzbehörden wird das Instrument Gefährdungsbeurteilung in Ablaufplänen und Umsetzungsempfehlungen vorgestellt und erläutert.
In diesem Faltblatt geht es um etwas anderes. Wir wollen Betriebs- und Personalräte ermutigen, sich dieses Instruments zu bedienen, um einen ganzheitlichen, systematischen Gesundheitsschutz einschließlich der Gesundheitsförderung im Betrieb zu fordern und zu fördern. Mit der Gefährdungsbeurteilung wird ein wichtiger Schritt von einem nach- sorgenden Arbeitsschutz – warten bis gesundheitliche Probleme sichtbar werden – hin zu einem vorsorgenden Gesundheitsschutz getan. Dabei gilt es, alle Aspekte des Gesundheitsschutzes, nicht nur die technischen, zu berücksichtigen. Mit der Gefährdungsbeurteilung lassen sich die Leitfrage des traditionellen Arbeitsschutzes »Was macht krank ?« und die Leitfrage der Gesundheitsförderung »Was erhält gesund ?«, gut verknüpfen.
Obwohl die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung seit 1996 rechtlich verpflichtend ist, wird sie nur in ca. 30 Prozent aller Betriebe umgesetzt. Zudem finden Faktoren wie Stress und psychische Belastungen bisher selten Berücksichtigung. Deshalb wurden im Oktober 2013 die psychischen Belastungen im ArbSchG durch eine entsprechende Ergänzung der §§ 4 und 5 stärker betont.
Betriebs- und Personalräte verfügen über alle notwendigen rechtlichen Instrumente, um Gefährdungsbeurteilungen zu initiieren und das Vorgehen zusammen mit dem Arbeitgeber festzulegen.
Mit dem bestens bekannten Satz von Erich Kästner kann das Fazit lauten: »Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es«.
Gesundheitsschutz: Besser mit System als von Beschwerde zu Beschwerde
Betriebs- und Personalräte kennen es nur zu gut: Kollegen klagen über Probleme am Arbeitsplatz, zum Beispiel über Unzufriedenheit mit dem Verhalten des Vorgesetzten, möchten aber aus Unsicherheit und Angst heraus nicht, dass der Betriebs- oder Personalrat tätig wird. Und die Arbeitgeberseite? Welcher Betriebs- oder Personalrat kennt das nicht? »Nennen Sie mir Ross und Reiter, ansonsten sehe ich keinen Handlungsbedarf«.
Die Gefährdungsbeurteilung bietet einen Ausweg aus diesem Dilemma. Durch eine systematische Erhebung aller Belastungen im Betrieb können Themen sichtbar gemacht, besprochen und gelöst werden, die vorher eventuell als individuelle Probleme abgetan wurden. Besonders wichtig ist es, dabei die Beschäftigten aktiv in den gesamten Prozess einzubeziehen, denn sie sind diejenigen, die ihre Arbeitsbedingungen am besten kennen. Leider wird die Beteiligung von Beschäftigten häufig auf das Ausfüllen von Fragebögen, also auf die Problemermittlung begrenzt.
Will man einen nachhaltigen, von allen akzeptierten Gesundheitsschutz im Betrieb schaffen, ist es nötig, die Beschäftigten auch bei der Entwicklung und Umsetzung von Schutzmaßnahmen einzubeziehen. Eine gute, in der Praxis er- probte Vorgehensweise ist die kombinierte Anwendung von Fragebogen mit anschließendem Zirkel oder Workshop, in dem dann nach der Auswertung des Fragebogens Lösungsansätze entwickelt werden können.
Gefährdungsbeurteilung – ein lohnendes Betätigungsfeld für betriebliche Interessenvertretungen
Es gibt kaum ein Betätigungsfeld, in dem es so weit reichende Mitbestimmungsrechte gibt, wie im Arbeits- und Gesundheitsschutz. Die Gefährdungsbeurteilung nach dem Arbeitsschutzgesetz eröffnet den Interessenvertretungen ein Handlungsfeld, welches weit über den klassischen Reparaturgedanken – Beseitigung punktuell auftreten- der Gefährdungen – hinausgeht. Durch die Einbeziehung von Themen, wie zum Beispiel
- Arbeitszeit
- Zeitdruck
- Termindruck
- Arbeitsabläufe
- Vorgesetztenverhalten und
- Betriebsklima
können alle Fragestellungen des Gesundheitsschutzes bearbeitet werden, ohne dass Beschwerden einzelner Kollegen vorliegen müssen. Damit können zum Beispiel Maßnahmen für Themen wie Führungsverhalten und Gesundheit, Kommunikation im Betrieb, aber auch zu
hohe Arbeitsmengen und Zeitdruck entwickelt und verhandelt werden.
Gefährdungsbeurteilungen – auch eine Chance für die Betriebe
Auch wenn kaum umfassende Daten zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung vorliegen, so gibt es doch genügende Hinweise darauf, dass die Vorschrift in der Praxis entweder gar nicht oder nicht genügend umgesetzt wird. Nach verschiedenen Quellen ist davon auszugehen, dass nur in etwa 30 Prozent aller Betriebe – über alle Branchen und Betriebsgrößen hinweg – eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wird.
Es liegt auf der Hand, dass die Quote der durchgeführten Gefährdungsbeurteilungen je nach Größe der Betriebe variiert. Die Quote ist allerdings nur eine Seite der Medaille, die andere mindestens genauso bedeutende Facette ist die Qualität der Gefährdungsbeurteilung.
Bei genauerem Hinsehen von Dokumentationen zur Gefährdungsbeurteilung fällt auf, dass einige Betriebe im wesentlichen daran interessiert scheinen, die gesetzlichen Anforderungen formal zu erfüllen. Die Chance im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung eine betriebliche Arbeitsschutzorganisation zu entwickeln, in der ein präventiver Gesundheitsschutz verankert ist, wird häufig nicht genutzt. Das ist umso bedauerlicher, als der Betrieb selbst einen großen Nutzen aus einem systematischen präventiven Arbeitsschutz ziehen können. Der kann z.B. in der Reduzierung betrieblicher Störungen liegen, die meist nur unvollständig erfasst werden. Ein konsequenter Arbeits- und Gesundheitsschutz, der Unfälle und Gesundheitsstörungen mit ihren negativen Auswirkungen auf die Produktivität des Betriebes vermeiden hilft, leistet auch einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg des Betriebes.
Die aus unserer Erfahrung hauptsächlichen Mängel in Gefährdungsbeurteilungen sind:
- Die Gefährdungsbeurteilung bleibt
an der Oberfläche, überwiegend werden technische und Verletzungs- bzw. Unfallgefahren ermittelt - Tätigkeitsbezogene Belastungen wie zum Beispiel bestimmte Körperhaltungen fehlen häufig
- Belastungen aus dem Bereich Arbeitsorganisation wie z. B., Zeit- druck, Führungsverhalten und Arbeitsverdichtung werden oft gar nicht erhoben
- Die Beschäftigten werden selten in die Beurteilung einbezogen
- Die Notwendigkeit Schutzmaßnahmen zu ergreifen wird häufig nicht gesehen, stattdessen wird das Verhalten der Beschäftigten in den Vordergrund gestellt
Ohne aktive Gestaltung von Betriebs- und Personalräten bleibt die Gefährdungsbeurteilung oft ein Papiertiger
Betriebsräte haben im Zusammenhang mit Gefährdungsbeurteilungen ein so umfassendes Mitbestimmungsrecht, dass so mancher Arbeitgeber erstaunt wäre, wenn dieses komplett geltend gemacht würde. Die rechtliche Basis hier- für ist für die Betriebsräte das Betriebsverfassungsgesetz § 87 (1) 7 und die hiermit zusammenhängende Rechtsprechung der Arbeitsgerichte der letzten Jahre.
Besonders erwähnt werden sollen zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichtes aus den Jahren 2004 und 2010, in denen es festgestellt hat, dass der Betriebsrat in allen Fragen der Gefährdungsbeurteilung über die volle Mitbestimmung verfügt. Dies sei auch notwendig um zu gewährleisten, dass alle betrieblichen Aspekte berücksichtigt werden.
Jede zu entscheidende Frage bei der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung muss zwischen Betriebsrat und Betriebsleitung ausgehandelt werden, und zwar so detailliert, dass für den Arbeitgeber keine Ermessenspielräume mehr verbleiben.
Beteiligungsmöglichkeiten bestehen also bei:
- Festlegung der zu erhebenden Belastungen am Arbeitsplatz
- Festlegung der Methoden (Begehung, Checkliste, Befragung, Zirkel, Workshops)
- Festlegung, wer die Gefährdungsbeurteilung durchführt
- Festlegung der Schutzziele in Verbindung mit arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen und den Grundsätzen menschengerechter Gestaltung von Arbeit
- Auswahl von Schutzmaßnahmen
- Dokumentation
- Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen
- Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung
In seinen Urteilen aus dem Jahr 2004 hat das Bundesarbeitsgericht noch ein- mal formuliert, was die Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz ausmacht. Diese Erläuterung lässt keine Fragen offen:
»Das Mitbestimmungsrecht setzt ein, wenn eine gesetzliche Handlungspflicht objektiv besteht und wegen Fehlens einer zwingenden Vorgabe betriebliche Regelungen verlangt, um das vom Ge- setz vorgegebene Ziel des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu erreichen. Ob die Rahmenvorschrift dem Gesundheitsschutz mittelbar oder unmittelbar dient, ist unerheblich. Keine Rolle spielt auch, welchen Weg oder welche Mittel die dem Gesundheitsschutz dienende Vorschrift vorsieht. Ebenso wenig kommt es auf eine subjektive Regelungsbereitschaft des Arbeitgebers an.« 8.6.2004; BAG 1 ABR 13/03, Rdnr. 41
Demgegenüber haben die Personalräte keine ganz so komfortable Ausstattung mit Mitbestimmungsrechten hinsichtlich der Gefährdungsbeurteilung. Hier greifen die Personalvertretungsgesetze des Bundes und der Länder. Leider vertritt das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung, dass eine Mitbestimmung von Personalräten lediglich bei der Auswahl von Schutzmaßnahmen besteht. Aber auch über diesen Mitbestimmungstatbestand lässt sich viel für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen erreichen. Trotzdem haben es einige Personalräte geschafft, Dienstvereinbarungen zu dem Thema abzuschließen.
Ohne Qualifizierung und Beratung geht es nicht
Will die betriebliche Interessenvertretung Einfluss nehmen auf die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung, dann kommt sie nicht umhin, sich in die entsprechenden Themenfelder ein- zuarbeiten. Mitbestimmung wahrnehmen heißt ja nichts anderes, als jeden einzelnen Punkt mit dem Arbeitgeber zu verhandeln. Das kann nur erfolgreich sein, wenn das Gremium oder die zuständigen Mitglieder eigene Ideen und Zielsetzungen entwickelt haben.
Betriebsinterne Seminare mit anschließender sachverständiger Begleitung bei der betrieblichen Umsetzung bieten sich hier an.
Rechtliche Verankerung
Die Vorschrift über die Beurteilung der Arbeitsbedingungen findet sich im Arbeitsschutzgesetz. Die Arbeitgeber sind hiernach verpflichtet, für alle Arbeitsplätze in ihrem Betrieb tätigkeitsbezogene Gefährdungsbeurteilungen vorzunehmen und zu dokumentieren sowie erforderliche Schutzmaßnahmen zu treffen. In zahlreichen Verordnungen wird diese Vorschrift zudem für be- stimmte Tätigkeiten und einzelne Belastungsarten konkretisiert.
Das Betriebsverfassungsgesetz und die Personalvertretungsgesetze regeln die Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte der betrieblichen Interessenvertretungen.
- Arbeitsschutzgesetz §§ 4, 5 und 6
- Betriebsverfassungsgesetz § 87 (1) Nr. 7
- Personalvertretungsgesetz des Bundes § 75 (3) Nr. 11 und 16
Die Beratungsstelle Arbeit & Gesundheit befasst sich schon seit vielen Jahren mit der Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen. Wir beraten betriebliche Interessenvertretungen dabei, wie die Gefährdungsbeurteilung für einen systematischen Arbeitsschutz genutzt werden kann. Für Nachfragen und weitere Auskünfte stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.